Eintrag vom 16. September 2017
"Warum tust Du Dir das eigendlich noch alles an?" wurde ich zuletzt gefragt, als ich von meiner Arbeit auf unseren Infoständen
erzählte. Nun, neben meinem politischen Engagement macht es mir einfach Spaß mit unterschiedlichsten Leuten ins Gespräch zu kommen.
Gut, es sind immer mal wieder ein paar schräge Typen dabei - die Frau die mich für die Lutheraner missionieren wollte, Verschwörungstheoretiker
die mir die Welt neu erklären wollen oder halt auch die auf Krawall gebürsteten GehtdochendlichabsaufenichwählesowiesodieAfD-Typen.
Ansonsten sind aber auch wirklich sehr nette Menschen dabei: ältere Leute kommen auf ein Schwätzchen und schenken uns Weintrauben, Kinder möchten
gerne einen Luftballon und danach natürlich einen Aufkleber haben
(Erwachsene tendieren eher zu anderen Motiven) und bekommen
obendrein noch Kugelschreiber oder Gummibärchen.
Ob vor einer Woche wieder im strömenden Regen in Augsburg oder gestern bei teilweise strahlendem Sonnenschein in Schwabmünchen, es kommen natürlich auch Leute zu uns die wirklich etwas über die Piraten wissen und mit uns über Politik reden wollen. Was mich wahnsinnig freut: es sind dieses Jahr erstaunlich viele junge Leute dabei, die sich als Erstwähler eine Menge Gedanken über die richtige Wahlentscheidung machen und sich deswegen auch aus erster Hand informieren - da macht es, egal wie das Wetter ist, richtig Spaß mit denen, die sich nicht vor Problemen verstecken sondern sie benennen und sich noch engagieren wollen, auch mal über eine Stunde zu diskutieren und sich Löcher in den Bauch fragen zu lassen. Wir haben jeden unserer Besucher dazu eingeladen, auch bei unseren Stammtischen vorbeizuschauen und ich hoffe daß sich der eine oder andere von ihnen - nicht nur diesen Sonntag um 18:00 Uhr im Schützenheim Schwabmünchen vor der jetzt anstehenden Bundestagswahl, sondern auch darüber hinaus - einmal die Zeit dafür nehmen kann.
Natürlich gibt es auch "schwierigere" Fälle, die mich nach mittlerweile fast sechs Jahren Mitgliedschaft bei den Piraten auch hin und wieder frustrieren
können. Vor allem die Fraktion der Bundesbürger, welche die schrittweise Etablierung des Überwachungsstaates eigentlich ganz gut finden weil sie
ohnehin "Nichts zu verbergen"™ hätte. Ich gebe ja zu daß es durchaus Gründe geben kann, die
für den Einsatz von Überwachungskameras
sprechen können - leider werden solche Instrumente aber meist nicht bei den Leuten zum Einsatz kommen, die wirklich eine ernstzunehmende
Bedrohung für unsere
freiheitlich-demokratische Grundordnung, den Rechtsstaat oder das Grundgesetz unseres Landes darstellen. Naja, sicherheitshalber infomieren die zuständigen
Behörden die Bürger gar nicht über solche Angelegenheiten - das könnte ja dazu geeignet sein "die Bevölkerung zu
verunsichern"... und außerdem hat man sowieso im Moment leider noch etwas viel dringenderes und wichtigeres zu
tun...
All das Streben nach mehr und immer mehr angeblicher Sicherheit (also dem Gefühl der Sicherheit) zu Lasten unserer Rechte und unserer Privatsphäre
resultiert maßgeblich aus dem populistischen Schüren von Ängsten - und zwar gerade durch die selbsternannten Experten und Sicherheitsminister
der politischen Parteien. Man könnte sagen daß hier, wie in jeder anderen Verkaufsbranche auch, seit Jahren exzessiv an der Schaffung eines
"Bedarfs" gearbeitet wird, um die eigenen
"Produkte" am Wahltag auch richtig an den Mann bringen zu können. Mich frustriert deswegen nicht daß sich die Menschen ängstigen lassen,
sondern daß sie diese Werbetaktiken nicht einmal kritisch hinterfragen und so erkennen, daß wir heute keineswegs in gefährlicheren Zeiten leben als
vor dreißig, vierzig oder fünfzig Jahren.
Was uns ebenfalls aufgefallen ist: viele derjenigen, die sich an unseren Ständen gegen Migranten oder Asylbewerber aussprachen (und sich in dem ein oder anderen
Fall auch einer etwas "heftigeren" Wortwahl bedienten), haben in der eigenen Ahnenreihe selbst einen Migrationshintergrund zu verzeichnen. Xenophobe
Tendenzen bei sogenannten "Russlanddeutschen" oder türkischstämmigen Bürgern? Ist das jetzt ein Zeichen europäischer
Integrationsbemühungen oder nur der Neid auf Leute, denen es
so dreckig geht daß man ihnen hilft, während die eigenen Eltern oder Großeltern es damals alleine schaffen mussten?
Sicherlich tut auch die Schlagzeilengeilheit der Boulevardpresse sowie die Berichterstattung über populistisch-plakative Beweise der eigenen
Handlungsfähigkeit ein übriges dazu. Ich
habe ziemlich energisch mit Leuten diskutieren müssen die Flüchtlingen aus Afghanistan oder Syrien jegliche eigene Kultur absprachen, ohne zu wissen wie
diese Leute vorher in ihrem Land gelebt hatten - die Bilder im Fernsehen zeigen zerbombte Städte, Flüchtlingslager oder Nomaden mit ihren Viehherden
(im besten Fall noch ein paar Opium-Bauern), das scheint den Leuten als Stereotyp zu genügen ohne sich selber informieren zu wollen. Für diese
Klientel sind das alles Kinderschänder, Drogendealer oder Sexualstraftäter - das "wissen" sie schließlich aus der BLÖD-Zeitung. Warum
sollte man da noch mit diesen Leuten selber sprechen? Die verstehen einen doch sowieso nicht... ach, er hat schon einen Sprachkurs besucht? Den haben wir ihm
sicherlich auch noch bezahlt! Und was soll dieses
"B2" überhaupt bedeuten?..
Ignoranz ist das Zauberwort und das Problem unserer Zeit. Man will sich nicht mit politischen Themen befassen ("dafür habe ich ja
schließlich Sie"), man will sich nicht die eigene Meinung bilden (weil das anstrengend ist?) und man will sich nicht selber die Hände
schmutzig machen. Traurig aber wahr, genau so schallt es mir über den Infotisch mit den Kugelschreibern immer wieder mal entgegen. Solange es die Leute nicht
selber betrifft, ist dieses Problem für sie nicht relevant, und sie verstecken sich davor. Naja, so macht es Ihnen Frau Merkel ja schließlich seit zwölf
Jahren durchgehend vor.
Aber von dieser Ignoranz, diesem "Sich aus allem heraushalten" leben die Politiker unserer etablierten Parteien. Genau das ist es, was Ihnen
in jeder Legislaturperiode die Wiederwahl sichert! Wie bringt es
Reinhard Mey auf so geniale Weise in seinem Lied "Heimatlos" auf den Punkt:
"Kein Aufschrei geht durchs Land, nur stilles Ducken, kein Aufmucken,
keiner geht mehr auf die Straße, nur ein müdes Achselzucken
über Unterschlagung, Hinterziehung, Lügen und Skandale...
eine schlappe Spaßgesellschaft, ohne Moral und Ideale.
Gib ihnen Brot und Spiele, das betäubt die Republik,
ein bißchen Love-Parade, Schmuddel-TV und Volksmusik,
ein bißchen Unterleibskomik, bißchen nackten Hintern zeigen
und keiner hört mehr auf die Mahner und die Lästermäuler schweigen!
Gib ihnen hohle Plastik-Idole, die durch ihren Alltag geistern
und bunte Werbung, um ihnen die Augen zu verkleistern!
Gib ihnen ihre Seifenoper und du hast sie in der Hand:
Heiterkeit und Lechz! und Freizeit, danach strebt das Vaterland!"
Klar ist das traurig. Deswegen ist es für mich kein Wunder wenn nach vielen Jahren des Engagements der eine oder andere meiner Mitpiraten irgendwann erklärt das er jetzt die Segel streicht und vor Anker gehen wird. Man kann sich viele Beulen holen wenn man immer wieder gegen diese Mauern anrennt.
Allerdings habe ich bei meinen Versuchen in den letzten sechs Jahren herausgefunden daß meine Schädeldecke noch ein gutes Stück dicker ist als gedacht und ich deswegen noch nicht aufgeben werde, Löcher in diese dicken Bretter zu bohren, die sich meine Mitmenschen vor die eigene Stirn halten - im Glauben, das dies einen wirksamen Schutz darstellt. Sie glauben einer Propaganda, die sich in den letzten siebzig Jahren nur unwesentlich verändert hat. Ich werde sie weiterhin darauf hinweisen, ob sie es hören wollen oder nicht, daß sie sich freiwillig für Dumm verkaufen lassen.
Deswegen tue ich mir das alles an. Ich gebe zu, ich bin ein Sturkopf, ein Überzeugungstäter. Ich bin zu dumm dazu den "leichten" Weg zu
gehen. Ein ehemaliger Gymnasiallehrer von mir gab, als er von meinem Eintritt in die Piratenpartei hörte, damals angeblich kopfschüttelnd zum besten:
"Typisch für ihn. Warum geht er nicht zu einer vernünftigen Partei?"
Weil ich nicht anders kann: ich kann nicht mit den Wölfen heulen. Und mal abgesehen davon, daß ich durchaus der Meinung bin einer vernünftigen
(und zwar sehr vernünftigen) Partei beigetreten zu sein: die Unvernunft der "richtigen" Parteien schützen sich diese durch ein undurchdringliches
Geflecht von Seilschaften und Beziehungen, die eine Reformation dieser Strukturen unmöglich machen würden. Aber zum Speichellecken und Buckeln, in der
Hoffnung auf Listenplätze und lukrative Posten, habe ich wohl zuviel Rückgrat.
Und was nützt das, wenn die Piraten nicht von der Bevölkerung als Alternative wahrgenommen werden? Wenn wir auch bei dieser Bundestagswahl erneut
(was ja abzusehen ist) an der Minoritätsklausel scheitern?
Einmal das Wissen, für eine vernünftige Sache einzustehen. Dann die Chance, andere Menschen von der Notwendigkeit politischer Veränderungen
in unserem Land, hin zu wieder mehr Bürgerrechten und Mitbestimmung, überzeugen zu können. Und die Erkenntnis, das auch kleine Schritte
irgendwann am Ende zum Ziel führen werden.
Es geht darum, daß wir unsere Freiheit wieder als Wert erkennen.
Und das ist all diese Mühe wert.
"Werte gewinnen an Wert, wenn sie an Wert verlieren."