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Eintrag vom 23. Oktober 2016

Ich habe schon seit Ewigkeiten kein Fernsehen mehr gesehen, aber ich habe jetzt eine Ausnahme gemacht - aufmerksam geworden durch die Vorab-Berichterstattung auf den ARD-Fernsehfilm "Terror". Die ARD hat hier ein als Theatherstück konzipiertes Werk adaptiert und damit experimentiert, die Zuschauer als "virtuelle Schöffen" selbst das Urteil fällen zu lassen. Ich werde hier keine Beurteilung darüber abgeben, aus welchen Gründen dies geschehen ist - die Einschaltquote dürfte hierbei jedoch keine unerhebliche Rolle gespielt haben.
Aufgrund der Brisanz des fiktiven, jedoch durchaus realistischen Falls fiel das Ergebnis der Zuschauer denn auch ziemlich eindeutig aus: 87 Prozent stimmten dafür, den angeklagten Jagdpiloten vom Vorwurf des Mordes an insgesamt 164 Passagieren einer von ihm abgeschossenen Linienmaschine freizusprechen. Sie folgten damit der Begründung der Verteidigung, dass sein Mandant durch seine eigenmächtig getroffene Entscheidung das kleinere von zwei Übeln gewählt habe um zu verhindern, dass das von einem Terroristen gekaperte Flugzeug in ein vollbesetztes Fussballstadion gelenkt würde.

Der Film folgt dem Plott einer Gerichtsverhandlung, und das fiktive Gericht hat definitiv im Rahmen des Verfahrens nur die Schuldfrage des Angeklagten zu beurteilen. Aus diesem Grund war der Film sicherlich eine realistische Umsetzung, für mich jedoch enttäuschend, da erwartungsgemäß das Thema nur oberflächlich behandelt wurde und das Stück die grundlegenden, für mich viel wichtigeren Fragen beiseite schob und damit zur Nebensache degradierte.
Das Plädoyer der Staatsanwältin war für mich sowohl schlüssig wie auch rechtlich voll begründbar - meiner Meinung nach hätte das Gericht diesem stattgeben müssen. Der Pilot hätte wegen Missachtung seines Befehls verurteilt werden müssen - das Strafmaß wäre Auslegungssache gewesen.

Warum? Zum einen weil ein Soldat einen Befehl aus Gewissensgründen zwar verweigern kann (wobei er auch hier die Konsequenzen zu tragen hat), aber nicht eigenmächtig eine Handlung ausführen darf, die zum Tod von Zivilisten führt. Es darf hierbei keine Rolle spielen, einige wenige Menschenleben gegen eine höhere Zahl "aufzuwägen" - weil genau das unser Grundgesetz verbietet und dies durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2006 auch explizit bestätigt wurde. Das Konstrukt eines übergesetzlichen Notstandes, wie es der ehemalige Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung (mit dem ich im übrigen nicht verwandt bin) formulierte, muss sich den Werten und Grundsätzen unserer Verfassung unterordnen, und darf nicht als Umgehung unseres Grundgesetzes genutzt werden.

Was hätte ich gemacht? Diese Frage sollte sich jeder stellen, denn es ist eine unmögliche Entscheidung, um die sich jeder von uns nach Leibeskräften drücken würde. Ich habe sorgfältig darüber nachgedacht und deswegen auch ein paar Tage gebraucht, um diesen Eintrag zu schreiben, bis mein Entschluss feststand: ich hätte an der Stelle des Piloten nicht geschossen.
Man mag mir vorwerfen können, durch Unterlassung 70.000 Menschen in einem Fussballstadion zzgl. der Passagiere und der Crew des Flugzeugs dem Tod überlassen zu haben. Das mag zutreffen. Es ist im Endeffekt eine Entscheidung des Gewissens. Und selbst diese habe ich - auch das mag man mir vorwerfen - aus der sicheren Umgebung des eigenen Lebensraumes getroffen, und nicht von der Position eines Kampfpiloten hinter seinem Steuerknüppel aus.
Aber es ist wie bei der Musterung - bzw. in meinem Fall dem Abfassen meiner Verweigerung des Wehrdienstes. Aus diesem Grund will ich hier auch ganz deutlich klarstellen, dass ich den Piloten in einem solchen Fall nicht als Mörder sehen würde.
Wohl aber als Menschen, der sich des Strafbestands des Totschlags schuldig gemacht hat.

Warum? Mich stört bei den Plädoyers beider Seiten in diesem fiktiven Verhandlungsfall, dass sie abseits der Fakten argumentieren, die der Richter am Ende seiner Urteilsbegründung aber als wesentliche Grundlage zur Urteilsfindung anführt. Der Pilot kann sich nicht dadurch entlasten, dass er die Insassen des Flugzeugs ohnehin als "verlorenes Leben" einstuft und sogar durch die Geiselnahme des Terroristen als "Teil seiner Waffe" zu einer reinen willenlosen Sache herabstuft. Niemand hätte sagen können, ob die Passagiere den Geiselnehmer nicht vor dem Einschlag in das von ihm auserwählte Ziel hätten überwältigen und so die Katastrophe noch hätten abwenden können. Durch den Abschuss der Maschine wurde ihnen diese Option genommen. Ich kann der Folgerung der Staatsanwältin hier nur zustimmen: sie wurden durch die Entscheidung des Piloten ihrer Menschenwürde beraubt.
Auch das Argument, dass durch "Nichtstun" oder eine Verurteilung des Piloten ein "falsches Signal" an andere potentielle Attentäter gesendet und diese zur Kaperung "weicher Ziele" dadurch noch "ermutigt" würden, kann ich nicht gelten lassen. Ich habe schon oft betont dass wir unsere Prinzipien, unsere Gesetze, unsere Rechtsstaatlichkeit oder unsere Freiheit auf der Basis unserer Verfassung nicht dadurch schützen können, indem wir im Zweifelsfall darauf scheißen verzichten sie anzuwenden oder uns "Schlupflöcher" konstruieren. Wenn wir selbst nicht unsere Verfassung achten und deren Inhalte befolgen - auch wenn es uns aus persönlicher Sicht heraus schwerfällt - haben wir sie selbst bereits aufgegeben.

Ja, ich hätte das Flugzeug nicht abgeschossen. Auch, weil es sicherlich andere Optionen gegeben hätte. Der Film hatte dies kurz bei der Vernehmung des vorgesetzten Offiziers angedeutet - z.B. die Evakuierung der als potentielle Anschlagsziele erkannten Gebäude. In der Handlung wurde dies allerdings unterlassen, und zwar weil sich alle stillschweigend darüber einig zu sein schienen, dass der Pilot eben im Zweifelsfall eigenmächtig einen Abschuss vornehmen würde. Dies würde anscheinend von Soldaten in einem solchen Fall "erwartet". Nun, ich kenne einige Leute die bei der Luftwaffe gedient hatten und werde sie dazu einmal befragen... denn es scheint mir notwendig zu sein, hier einmal nachzuhaken. Würde dies zutreffen, dann hätten wir uns bereits offiziell von einem Rechtsstaat entfernt.

Wäre ich durch meine Entscheidung zum Mithelfer des Terroristen geworden? Hätte ich Schuld auf mich geladen? Für mich persönlich mit Sicherheit. Aber das aktive Töten von Menschen ist für mich noch eine Stufe höher anzusetzen als das passive "Geschehenlassen". Ein philosophischen Dilemma, das gebe ich zu, und auch hier sind im Film einige interessante Querverweise zu verschiedenen Werken genannt worden, die ich zur Lektüre empfehlen möchte. Ein wesentlicher Faktor bei solchen Entscheidungen ist, ob man sie als persönlich Betroffener trifft - und ich meine dies nicht als der Pilot des Kampfjets, sondern auch unter dem Gesichtspunkt, ob sich z.B. eigene Angehörige oder nahestehende Personen unter den Opfern befinden würden.
Im Film stellt die Staatsanwältin dem Angeklagten eine entscheidende Frage: hätte er das Flugzeug auch abgeschossen, wenn sich seine eigene Frau und sein eigenes Kind an Bord befunden hätten? Der Pilot (und der Film) bleibt hier eine Antwort schuldig, und das ist gut so denn darauf kann es keine Antwort geben. Wer hier antworten könnte, wäre kein Mensch mit Gefühlen mehr. Aber er weist auf das allumgreifende Dilemma der Situation hin.

Und wie ist es mit mir? Hätte ich das Flugzeug auf ein Stadion abstürzen lassen, indem sich zu diesem Zeitpunkt meine Familie aufhält?
Die ehrliche Antwort ist: ich weiß es nicht. Ich kann es wirklich nicht sagen. Es ist wie die berühmte Frage bei der Anhörung, um die Ernsthaftigkeit des Kriegsdienstverweigerers zu testen: "Sie gehen durch den Park mit ihrer Freundin und werden von drei Russen überfallen. Zufällig haben Sie eine Waffe dabei..."
Zu was man in einer solchen Situation fähig ist, das erfährt man erst in diesem einen, entscheidenden Augenblick.

Aber gerade diese Unwissenheit macht es für uns doch zur Pflicht, vorzubeugen und zu versuchen, solche Situationen nicht entstehen zu lassen. Ich rede jetzt hier nicht von einer Verschärfung der Flugsicherheit, von mehr Überwachung oder - wie im Anschluss des Films zu erwarten war - von einer Neudiskussion zum Einsatz der Bundeswehr im Inneren und zur Legaliserung des "finalen Schusses". Dies alles doktert nur an den Symptomen herum. Terrorismus bekämpft man am besten, indem man dessen Ursachen bekämpft.
Andernfalls droht unserem Rechtsstaat ein Dammbruch, denn warum sollte man in einem solchen Fall beim Abschuss von Passagiermaschinen stehen bleiben? Wenn der Pilot im Film argumentiert, die Passagiere hätten aufgrund der Bedrohungslage schon durch den Kauf ihres Tickets der potentiellen Gefahr eines Abschusses "zugestimmt", dann muss dies folgerichtig für alle Aspekte unseres Lebens gelten. Jeder von kann kann jederzeit und überall in eine Situation geraten, in der er vom Staat oder seinen ausführenden Organen einem "größeren Wohl" geopfert werden könnte. Das ist dann kein Rechtsstaat mehr, sondern eine Willkür einzelner weniger, in Machtpositionen stehender Personen.

Sollte ich in eine solche Situation geraten kann ich nur hoffen dass mir die "Entscheidungsträger" dieser Welt in jedem Moment die Möglichkeit überlassen, selbstbestimmt über mein Leben zu entscheiden. Wenn ein Terrorist das von mir bestiegene Flugzeug kapert, dann will ich selbst versuchen dürfen, sein Vorhaben zu vereiteln - ehe ein anderer die Entscheidung über meinen Kopf hinweg trifft.

"In Zeiten, die den Keim künftiger Entscheidung in sich tragen, müssen wir allein gelassen werden."

Franz Herwig