Eintrag vom 24. September 2017
Selbst Reinhard Mey dürfte gestern Abend die Freude auf den Wahlsonntag vergangen
sein, als die ersten Hochrechnungen verkündet worden sind. Die AfD stellt in den kommenden vier Jahren die
stärkste Oppositionspartei und hat durch die Mobilisierung von Nichtwählern sowie abgeworbenen Stimmen von
der konservativen CDU/CSU enorme Gewinne eingefahren. Der CDU reicht es mittlerweile die (noch) stärkste Partei
zu sein um sich ("voll muttiviert") als "Gewinner" zu fühlen, bei der Wahlparty der CSU konnte
man die nassen Hosen Angst vor einer aufkommenden rechtskonservativen Konkurrenz bei der Landtagswahl im
nächsten Jahr bereits riechen. So langsam dürfte einigen Leuten dämmern das wir vor einer gravierenden
Veränderung in der Bundespolitik
stehen. Um es anders auszudrücken: jetzt haben wir den Salat.
Was bedeutet dieses Wahlergebnis nun für unser Land in der kommenden Legislaturperiode? Die SPD hat - erwartungsgemäß,
da sie zu oft umgefallen ist und ihre eigenen Werte zu oft verraten hat - das schlechteste Ergebnis seit Gründung der Bundesrepublik
eingefahren und bereits um 18:10 Uhr angekündigt, in die Opposition zu gehen. Übrig bleibt somit für eine Regierungsbildung
nur die Kombination der CDU/CSU mit den GRÜNEN und der FDP, da eine Koalition mit den LINKEN faktisch ausgeschlossen werden kann.
Das kann funktionieren, ist aber eine aus der puren Not geborene Lösung. Die Frage die sich also unwillkürlich in den
Vordergrund drängt ist: wie lange hält dieses Konstrukt, und was kommt danach?
Sofort nach Verkündung der ersten Hochrechnungsergebnisse verkündete Herr Gauland die Absicht der AfD, "Frau Merkel
zu jagen". Und in der Tat kamen in den ersten Kommentaren von Frau Merkel und den Länderfürsten der CDU bereits
neue Untertöne an die Oberfläche, aus denen man einen künftigen Kurswechsel erahnen kann. Wenn die CDU/CSU etwas noch mehr
haßt als die Pest ist es die Gefahr, künftig nicht mehr die Regierungspartei stellen zu können. Die Betonung, noch mehr
Gewicht auf die "inneren Sicherheit" und die "Lösung der Flüchtlingsfrage" zu legen weißt deutlich
darauf hin, daß hier ein deutlicher "Rechtsruck" zu erwarten ist.
Den wird im übrigen auch die FDP, die sich jetzt wieder (wirtschafts-)"liberal" nennt, nicht aufhalten können. Herr
Lindner ist im siebten Himmel, wieder auf der politischen Bühne vertreten zu sein - und er wird deswegen nichts riskieren wollen.
Auch die GRÜNEN werden sich an ihren Äußerungen der vergangenen Oppositionsjahren messen lassen müssen, und hier
prophezeihe ich (auch hinsichtlich der Erfahrungen aus den bereits bestehenden und zurückliegenden Landesregierungen) dass eher eine
Veränderung der grünen Politikgrundsätze als ein grüner Einfluß auf die Bundespolitik erfolgen dürfte.
Das alles stützt sich ganz gut durch die Äusserungen, die man am Wahlabend von Herrn Trittin und Herrn Lindner vernehmen konnte.
Beiden Parteien ist durchaus bewusst, dass es zusammen auf
"Jamaica" nicht einfach wird
und sehr viele Streitpunkte vorhanden
sind, weil alle potentiellen Koalitionspartner ziemlich entgegengesetzte Positionen im Wahlkampf vertreten hatten. Wer hier nachgibt,
wird vor seinen Wählern das Gesicht verlieren, und die CDU wird sich dies in ihrer gegenwärtigen Lage sicherlich nicht erlauben
können. Fast bedauernd äußerte deswegen Herr Lindner auch sein Unverständnis gegenüber der Oppositionserklärung
der SPD nach der ersten Hochrechnung - seine Partei wird jetzt liefern müssen und ihn dadurch in die ein oder andere Schwierigkeit
bringen.
Wie kann man aber nun ausgerechnet die AfD
wählen?
Selbst als Protestwähler sollte man bei jedem Bürger ein Grundmaß
an Intelligenz voraussetzen können. Und in der Tat hat die Wahlanalyse gut dargestellt, daß viele Menschen ihre Stimme nicht
aus Überzeugung, sondern aus Wut dieser Partei gegeben haben.
Der Rest hat sich vor allem aus Angst in die Arme der AfD geflüchtet, und das - hier muß ich Frauke Petrie im Interview vom
gestrigen Abend zum Teil recht geben - ist nicht nur das Machwerk der neuen Rechten selbsternannte "Alternative"
sondern vor allem aller großen konservativen Parteien. Die Sicherheitsminister von Bund und Länder haben versucht, durch die
Verbreitung vor Panik vor Flüchtlingen und Kriminellen Stimmen für ihre eigene Sache zu bekommen und mussten nun erleben, daß
sich das Blatt gegen sie gewendet hat. Dumm gelaufen, nicht wahr?
Nicht daß Ihr jetzt glaubt ich würde hier selbstzufrieden vor mich hin grinsen und mich an dem Dilemma der ehemaligen Bundesregierung
weiden - im Gegenteil, ich koche innerlich vor Wut. Denn für die politische Veränderung, die uns nun hier in Deutschland bevorsteht,
bin ich sicherlich nicht die letzten Wochen auf der Straße gestanden oder bei Diskussionsveranstaltungen gesessen. Die nächsten vier
Jahre drohen uns auf Bundesebene ein bespielloser Erdrutsch, fort von einem sozialliberalen Rechtsstaat und hin zu eine rechts-konservativen
Überwachungsstaat. Wenn schon in den letzten Legislaturperioden stetig die Axt an unsere Grund- iund Bürgerrechte gelegt worden ist,
so wird zukünftig die Motorsäge herausgeholt.
Auch was die soziale Absicherung in unserem Land angeht wird es ein Heulen und Zähneklappern geben. Die letzten zwanzig Jahren haben sich die
sogenannten "Volksparteien" stetig von dem "kleinen Mann auf der Straße" entfernt und bei dieser Wahl die Quittung
dafür bekommen - ohne jedoch offenbar den Hintergrund verstanden zu haben. Die CDU in Kombination mit der FDP wird zukünftig sicher
nicht den Sozialstaat wiederherstellen, sondern wie bislang die "Wirtschaft" wie gehabt tatkräftig unterstützen.
Und die AfD? Was ist von ihr als größte Oppositionspartei im neuen Parlament zu erwarten? Markige
Worte, populistische Phrasen,
Anschuldigungen und verleumderische Angriffe, verbales Aufstacheln gegen Andersdenkende und Minderheiten - aber mit Sicherheit keine
konstruktive parlamentarische Arbeit. Allerdings machte man es sich viel zu einfach wenn man darauf bauen würde dass sich dieser Spuk
durch die offen zur Schau gestellte Inkompetenz der AfD-Abgeordneten von selbst erledigen dürfte. Dadurch sind die Politiker der AfD
nicht zu entzaubern, denn etwas anderes erwarten die Wähler dieser Partei auch überhaupt nicht.
Eine der größten Gefahren, die uns allen jetzt durch den Einzug von Extrem-Rechtskonservativen in den deutschen Bundestag droht,
ist ein Gesinnungsumschwung innerhalb der Politik, den ich bereits oben beschrieben haben. Die Protagonisten der "Alternativen"
haben das schreckliche Talent, andere in ihr eigenes Spiegelbild zu verwandeln. Wir haben das bereits einmal erlebt, und ich hatte immer
gehofft daß wir in den vergangenen achtzig Jahren aus unseren Fehlern der Vergangenheit gelernt hätten. Es wird jetzt sehr viel
Kraft kosten, dieser Verlockung zu widerstehen und eben nicht auf die "dunkle Seite" zu wechseln. Und um ehrlich zu sein: ich
habe diesbezüglich große Bedenken bei einigen der Berufspolitiker, die unser Parlament bevölkern. Wer es vergessen hat:
auch ein Herr Gauland, das radikalverbale Aushängeschild seiner Partei, war vor noch nicht allzu langer Zeit Mitglied der CDU.
Aber die Propaganda des vergangenen Wahlkampfs hat auch direkte Auswirkungen auf uns Bürger. Die Leute hier fürchten sich vor
einem steigendem Einfluß des Islam auf unser Land - wo auf jede Moschee über zweihundert Kirchenbauten kommen und wo man
nicht einmal die eigene Bibel kennt, geschweige denn jemals die erste Sure des Koran gelesen hat. Die Leute haben Angst vor einer
ausufernden Kriminalität, ohne das es dafür eine reale Grundlage gibt - befeuert durch die proklamierte Stärkung des
"Sicherheitsgefühl" durch die CDU/CSU.
Herr Haselhoff sagte im Interview: "Rechts von uns darf es keine rechtskonservative Partei geben". Er sieht den
Schatten der Geister vor sich, die er mit seiner Partei selbst gerufen hat. Die Leute schieben Panik, obwohl sie selbst in den Umfragen
zugeben müssen daß es ihnen selbst ziemlich gut geht und sie sich selbst nicht von den Vorkommnissen direkt betroffen wähnen.
Das Ergebnis dieser Bundestagswahl ist das Ergebnis extrahierten Populismus der konservativen Parteien.
Das Problem: sie werden aus diesen Fehlern nicht lernen. Sie werden sie wiederholen und nur noch weiter vertiefen. Auf diese Weise besteht
keine Aussicht auf einen Wandel zum Positiven.
Tja - und was nun? Tut mir leid Euch damit konfrontieren muss, aber Ihr lieben Leute: es ist EURE Entscheidung gewesen! Nicht nur,
indem ihr direkt die AfD gewählt habt. Auch dadurch, daß Ihr taktisch gewählt habt: eine einzige weitere Kleinpartei
mit mehr als 5 Prozent hätte die AfD schon zusammenstutzen können! Und auch dadurch, daß ihr trotz all dem
absehbaren Chaos aus Frust, Bequemlichkeit oder Desinteresse
nicht Eure Stimme abgegeben habt.
Und, seid Ihr zufrieden? Fühlt sich die politische Destabilisierung gut an? Schon am gestrigen Abend haben sich Proteste gegen die AfD
auf den berliner Straßen gebildet, es wurde versucht die Wahlparty zu stören. Das ist kein geeignetes Mittel um diese Partei und
ihre ewig gestrige Politik (also die der CDU vor vierzig Jahren) zu bekämpfen. Im Gegenteil, es ist der Vorbote von Ereignisse, die
wie ein Schatten über uns hängen. Es droht nicht weniger als eine Spaltung unserer Gesellschaft und eine Stärkung radikaler
Positionen.
Diese Spaltung ist schon jetzt fast unausweichlich. Wenn Herr Gauland ankündigt, "unser Volk und unser Land zurückzuholen"
dann kann ich nicht schweigen, sondern ich muß aufstehen und ausrufen:
SIE SPRECHEN NICHT FÜR MICH! SIE SPRECHEN NICHT FÜR
EIN VOLK ODER EIN LAND! ICH WERDE NICHT TATENLOS ZUSEHEN WENN SIE VERSUCHEN, DIE ZEIT ZURÜCKZUDREHEN UND DIESES LAND IN EINE RETADIERTE
VERGANGENHEIT ANSTATT IN EINE OFFENE ZUKUNFT ZU FÜHREN!
Was ich aber inständig hoffe ist, daß wir am Ende es schaffen, die ausgehobenen Gräben wieder zuzuschütten und
wieder zu einem gemeinsamen WIR zu finden, anstatt für eine unabsehbare Zeit lang geteilt zu sein.
Schon am gestrigen Abend haben sich
Proteste
gegen die AfD auf den berlinder Straßen gebildet, es wurde versucht die Wahlparty zu stören. Das ist kein geeignetes Mittel um diese Partei
und ihre ewiggestrige Politik (also die der CDU vor vierzig Jahren) zu bekämpfen. Die AfD bekommt ihre Zustimmung auch durch ihre darstellerischen
Qualitäten in der "Opferrolle", das lautstarke Lamentieren ohne tatsächliche Auseinandersetzen mit dieser Partei in den Medien hat
sicherlich einen Anteil an ihrer "Popularität" gehabt.
Im Gegenteil, es ist mehr den je geboten miteinander zu reden und an die - hoffentlich noch vorhandene - Vernunft des Gegenübers zu appelieren.
Im direkten Gespräch, und dort sicher auch ohne seine Meinung hinter dem Berg zu halten - aber mit Fakten, nicht mit Parolen.
Die Wahl ist vorbei - deswegen bitte ich jetzt jeden in unserem Land darum, sich aktiv für ein friedliches, offenes und tolerantes
Miteinander einzusetzen. Das ist Eure Verantwortung für Eure Familie, Eure Freunde und unsere Demokratie.
Das Ergebnis dieser Bundestagswahl ist bitter - doch
lassen wir es nicht ein Omen für unsere Zukunft werden!
"Der Geburtsname von Freiheit ist: Verantwortung!"