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Eintrag vom 3. Mai 2017

Die "Leidkultur" ist ein Thema, dass unseren amtierenden Politiker derzeit besonders am Herzen liegt. Mit welchem Begriff könnte man sonst auf eine solch wunderschöne populistische Weise an den deutschen Patriidioten appellieren, seinen Verstand auszuschalten und sein Herz dem Redner zu öffnen? In diesem "Krampfbegriff" schwingt die Erinnerung an eine "gute alte Zeit" mit, in der die Welt noch vor Deutschland zitterte - erst vor Schrecken, dann vor Abscheu und am Ende vor Lachen.
Nein, aber mal im Ernst jetzt, weil ich mich zu diesem Thema ja schon einmal aufgeregt hatte: dieser mehr als plumpe Versuch unseres Bundessicherheitsministers de Maiziere die Misere der Regierungsparteien CDU/CSU zu kaschieren und mit dumpfer Volkstümmelei den nationalistisch geprägten Teil der Bevölkerung von der AfD wieder zur eigenen Partei zurückzuholen beleidigt die Intelligenz jedes halbwegs denkenden Demokraten. Das geht nicht einmal mehr als Satire durch.

Schauen wir uns doch mal im Einzelnen an, was sich Herr de Maiziere unter dem Begriff der "Leitkultur" denn eigendlich vorstellt. Es finden sich da in seinem (passenderweise in der BILD-Zeitung veröffentlichten) "10-Punkte-Papier" einige Dinge, die mich als überzeugten Demokraten den Kopf schütteln und als aufgeschlossener Bürger die Haare zu Berge stehen lassen:

Für Herrn de Maiziere sind wir Deutschen eine "offene Gesellschaft". Allein dies stellt schon einen Widerspruch zum Konzept einer Leitkultur dar, weil eine offene Gesellschaft sich - wie es der Name bereits andeutet - offen gegenüber neuen Einflüssen zeigt. Und das bedeutet nicht, dass wir Menschen aus anderen Kulturkreisen unsere Gebräuche und Traditionen "aufzwingen", sondern ihnen im Gegenteil das Recht zugestehen, diese Gewohnheiten weiter zu praktizieren und zu pflegen.
Dazu zählt auch das Recht zu entscheiden, ob man anderen Menschen die Hand geben will oder nicht - es gibt schließlich noch zahlreiche andere Formen, seinem Gegenüber seine Ehrerbietung zu zeigen, sei es durch Verbeugungen, Gesten oder mit Worten.
Ebenso zählt es zur eigenen Entscheidung, was und wieviel jemand von seinem Körper anderen Menschen zeigen will - auch wenn unser Innenminister ein Problem mit den Trägerinnen von Kopftüchern oder gar Burkas zu haben scheint. Der Bürger (in den Augen eines Sicherheitsministers ohnehin ein suspektes Individuum) hat sein Gesicht zu zeigen - Ausnahmen gibt es allerdings für die Polizeibeamte, welche das von ihm angeführte Vermummungsverbot bei Demonstrationen kontrollieren und damit ein schönes Beispiel für unsere "offene" Gesellschaft bieten.

Aber weiter: für Herrn de Maiziere gehört zur Leitkultur auch die Schul- und Allgemeinbildung. Er führt in seinen Erklärungen zwar nicht aus wo genau der Zusammenhang besteht (Bildung ist eigendlich ein Menschenrecht und hat absolut nichts mit der Kultur eines Landes zu tun), aber allein seine Vorstellungen weichen zum Teil gravierend von der Realität an deutschen Schulen ab. Als Vater eines schulpflichtigen Kindes kann ich hier aus eigener Erfahrung sprechen - mein Sohn hatte in diesem Jahr gefühlt halb so viel Unterrichtsausfall wie Regelferienzeit, und dabei besucht er eine Realschule, in der sich die Lehrer wirklich viel um die Schüler bemühen und deren Dach sogar (im Gegensatz zu anderen Bildungseinrichtungen) auch bei Starkregen dicht hält.
Wenn Bildungsqualität also tatsächlich ein Maßstab für die Kultur unseres Landes darstellen sollte, dann haben wir wohl - gelinde gesagt - ein kleines Problem.

Der nächste Punkt von Herrn de Maiziere ist ähnlich konfus geraten: ein wichtiger Punkt unserer Leitkultur wäre demnach die Leistungsgesellschaft als Schlüssel zum Wohlstand. Während ich mir den Kopf zerbreche, warum dieser Punkt so wichtig für eine Gesellschaft sein muss ergeht sich der Bundessicherheitsminister in Schwärmereien über unser Sozialsystem (das seit mehreren Regierungen systematisch abgebaut worden ist) und beschwört die Hilfsbereitschaft unseres Landes anderen gegenüber. Spätestens jetzt kommt mir der Eiertanz und die Kommentare von Mitgliedern seiner Partei zur Aufnahme von Flüchtlingen in den Sinn und frage mich, ob ich verarscht werde...

Das geht gleich weiter mit den Schlagworten nach "Frieden und Freiheit". Ich reibe mir die Augen angesichts des Umbaus der Bundeswehr von einer Verteidigungs- und eine Interventionsarmee, stetig steigender Exporte von Kriegswaffen in politisch instabile und antidemokratische Länder, der Schulung fremder Streitkräfte sowie dem Abbau von Bürger- und Freiheitsrechten in unserem eigenen Land. Reden wir hier wirklich von der Bundesrepublik, Herr de Maiziere? Und wenn die Existenz des Staates Israel (angesichts unserer eigenen Geschichte ein sicher wichtiges und berechtigtes Anliegen) ein maßgeblicher Faktor für unsere kulturelle Prägung ist, warum agiert die Regierung unseres Landes nicht ebenso nachhaltig und entschlossen im Fall anderer Staaten dieser Welt? Bedeutet Leitkultur, mit zweierlei Maß zu messen?

Vielleicht können wir uns das leisten, weil wir ja eine "Kulturnation" sind. So spricht Herr de Maiziere begeistert von den Einflüssen, die unser Staat auf zahlreichen Gebieten in die ganze Welt getragen habe. Andererseits scheint es umgekehrt verboten zu sein, andere kulturelle Einflüsse nach Deutschland bringen zu wollen - wie passt das zusammen? "Am deutschen Wesen soll die Welt genesen", aber alle anderen sollen ihre kulturellen Hintergründe am Grenzübergang ablegen? In der Medizin würde man ein so eine Forderung als "schizophren" bezeichnen.

Gleiches gilt auch für die Religionsausübung, sprich: dem Glauben. Herr de Maiziere sieht Deutschland als ein "christlich geprägtes Land", womit er sicher Recht hat. Das finstere Mittelalter scheint heute noch für so manchen Mob ein gutes Vorbild abzugeben, wenn es darum geht gegen andersdenkende und andergläubige Mitmenschen zu hetzen. Aber eigendlich wollte Herr de Maiziere ja auf die Religionsfreiheit zu sprechen kommen, auf die Trennung zwischen Staat und Kirche - die es in Deutschland aber eigendlich nur dem Buchstaben nach gibt. Denn durch die "christliche Prägung" hängt in jedem Schulklassenzimmer (zumindest in Bayern) ein Kreuz an der Wand und keine Moschee darf höher gebaut werden als die kleinste Wald- und Wiesenkapelle in Hintertupfing oder Fummelfing. Kirchenglocken sollen läuten, der Imam hat zu schweigen. Christliche Kindergärten dürfen die Einstellung nichtkonfessionsgebundener Fachkräfte verweigern oder Geschiedenen bei einer zweiten Heirat den Arbeitsvertrag kündigen.
Diese gelebte "Toleranz" soll also ein maßgeblicher Faktor für unsere eigene Kultur sein? Der Vorrang des christlichen Glaubens ist ein Zeichen unserer Weltoffenheit? Da sage ich (als Atheist) nur: "Gott bewahre!"

Im siebten Punkt bezieht sich Herr de Maiziere auf das Gewaltenmonopol des Staats bei Streitigkeiten, auf unser Rechtssystem. Das mag ich gerne unterschreiben, denn das ist einer der wesentlichsten Punkte für eine Demokratie, und sie wird - trotz einzelner Verfehlungen in letzter Zeit - in Deutschland immer noch hochgehalten. Warum Herr de Maiziere allerdings als plakatives Beispiel Ehrenmorde anführt kann ich nicht ganz nachvollziehen, da diese auch unter dem nicht-christlichen Bevökerungsanteil weitestgehend abgelehnt werden und weitaus seltener auftreten als Brandanschläge auf Asylbewerberheime - was Herr de Maiziere vermutlich unter dem allgemein gehaltenen Stichpunkt "Minderheitenschutz" abgehandelt hat. Ist ja auch klar: wer das potentiell rechtsnationale Spektrum der Bevölkerung umwirbt, der muss die "richtigen" Probleme benennen.

Denn die Deutschen, so führt Herr de Maiziere weiter aus, sind "aufgeklärte Patrioten". Die Deutschen haben ihr Land zu lieben lieben ihr Land, und deswegen beschützen wir es - vor anderen kulturellen Einflüssen? Meiner eigenen, unmaßgeblichen Meinung nach bedeutet es "ein Land zu lieben", nur einen Schritt vom Nationalismus entfernt zu sein - und wohin der uns geführt hat, dass können wir in unseren Geschichtsbüchern nachlesen. Oder wir können den Stimmen des Front Nationale oder der AfD lauschen, die uns davon verkünden.
Nein, Herr de Maiziere, Deutschland als Land kann ich nicht "lieben". Was ich aber liebgewinnen kann sind die Menschen, die hier leben - und zwar unabhängig ihrer Abstammung, Nationalität oder Religion. Und damit verbunden auch ihre individuelle Lebensweise, ihre Kulturen und Vorstellungen. Die Mischung von verschiedenen Einflüssen ist es, die unser Land bunt macht und über den grauen Brei einer statischen, durch starre Regelungen definierten "So-hat-es-zu-sein-Kultur" hinaushebt. Wenn es einen Grund gibt, gerne in einem Land zu wohnen, dann nur wegen des Miteinanders seiner Bewohner. Fahne und Hymne sind mir einerlei, und die geschichtliche Entwicklung unseres Staates sollte uns nur zur Lehre und zur Weiterentwicklung dienen, anstatt uns in ein Korsett aus Definitionen zu zwängen.

Herr de Maiziere definiert unser Land als ein Teil des Westens. Die geographische Zugehörigkeit zu Europa scheint bei ihm das Höchstmaß der fühlbaren Internationalität zu sein. Und - der deutschen Gründlichkeit sei Dank - sind wir Deutschen seiner Meinung nach sogar das "europäischste" Land in der ganzen Staatengemeinschaft. Also wieder einmal "besser" als die anderen Länder.
Mich schüttelt es innerlich vor so viel Überheblichkeit. Gleichzeitig bedauere ich Herrn de Maiziere wegen seins so beschränkten Horizontes. Er sieht unsere Welt immer noch wie zu Zeiten des eisernen Vorhangs, geteilt in West und Ost. Wenn wir aber wirklich ein weltoffenes Land sein wollen (wie er proklamiert), dann gehört eben auch dazu, uns anderen Kulturen zu öffnen - und das schließt auch die Regionen außerhalb Europas mit ein. Ich persönlich sehe mich, auch wenn ich in diesem Land lebe, als ein Bewohner des Planeten Erde, und als solcher will ich keine Grenzen zwischen Menschen, Ländern und Kulturen ziehen. So eine Weltoffenheit jagt unserem Sicherheitsminister aber vielleicht Angst ein.

Was ist für Herrn de Maiziere denn nun aber Deutschland? Das bringt er in seinem letzten Punkt zur Sprache, uns das sind wirklich Zeugnisse unserer glorreichen Kultur: die Fussballweltmeisterschaft (deutscher Patriotismus in Reinkultur), Karneval und Volksfeste (Orte des zelibrierten Massenbesäufnisses), aber auch der "Klang unserer Sprache" ("Mer kennet alles, außer Hochdeutsch"?) oder "landsmannschaftliche Mentalitäten" ("Mir san Mir"?).
Spätestens jetzt beginne ich mich zu fragen, ob ich wirklich Teil dieses Landes und seiner Kultur sein will...

Sehr geehrter Herr de Maiziere, was immer Sie unter dem Begriff einer Leitkultur oder einem ebenfalls zitierten "Verfassungspatriotismus" verstehen - Ihre Vorstellungen unterscheiden sich in vielen Punkten diametral von meinen eigenen Ansichten. So frage ich Sie jetzt, wie schon einmal Herrn Seehofer: bin ich nach Ihrer Definition überhaupt ein "Deutscher"?
Wenn ich mir mein Leben so ansehe, dann eher nicht: nach einem Schinkenbrot zum Frühstück fahre in einem koreanischen Kleinwagen morgens zu meiner Arbeitsstelle bei einem niederländischen, international agierenden Konzern. In der Mittagspause hole ich mir ein Stück Pizza, einen Döner oder vielleicht ein asiatisches Nudelgericht. Während ich einen Prüfbericht ins Englische übersetze trinke ich südamerikanische Kaffee. Auf der Heimfahrt höre ich dann amerikanischen Heavy Metal und mache dann Abends zusammen mit meinem syrischen Freund Falafel oder Sambousik. Zum Nachtisch hat er uns dann noch etwas Backlava mitgebracht.
Und ich fühle mich verdammt gut dabei, so ganz ohne Weißbier, Lederhose, Kleingartenverein und was weiß ich noch alles, was angeblich Teil unserer deutschen Leitkultur sein soll. Ich muss mich nicht über mein Land, meine Kultur oder meine Volkszugehörigkeit definieren, damit ich weiß wer ich bin oder wohin ich gehöre. Wer das braucht um sich "Deutsch" zu fühlen, der ist für mich ein wirklich armes Schwein.

Für mich gibt es nur einen Grundsatz, nur ein Regelwerk, nach welchem sich ein Bürger unseres Landes zu richten hat: nämlich unser Grundgesetz, und zwar vor allem die ersten 19 Artikel. Hier wird festgelegt, was die Grundlagen unseres Staates und seines Wertesystems sind. Und diese Grundsätze gelten für alle Menschen in unserem Land, sie machen keine Unterschiede zur kulturellen Herkunft, zu Traditionen oder individuellen Glaubensansichten. Wir brauchen in Deutschland nur unsere Verfassung, um das friedliche Zusammenleben der Bewohner zu regeln. Sonst nichts. Der Kampfbegriff einer "Leitkultur" dient nur dazu, Unterschiede zwischen den Menschen zu definieren und damit einzelne Bevölkerungsgruppe voneinander ab- und dadurch auszugrenzen. Er spaltet, anstatt die Einheit und das Miteinander der Menschen zu fördern.

In diesem Sinne, Herr de Maiziere: stecken Sie sich Ihre Leitkultur dorthin, wo sie sich am bequemsten anfühlt.

"Wenn Kultur begriffsgeschichtlich Bodenpflege bedeutet, dann wird Leitkultur auch den Boden bereiten. Es fragt sich nur, für wen."

Dr. phil. Jürgen Wilbert